Wie irre ist Natur?
- Julia Schmitt

- 27. März 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Feb.

In letzter Zeit ist Susi aufgefallen, dass sie viel zu wenig Zeit in der Natur verbracht hatte. Der Job war wichtiger, der Mann war wichtiger, das Hobby war wichtiger und die Zeit des Vergessens setzte ein. Sie vergaß, dass sie sich letztes Jahr geschworen hatte mindestens einmal im Monat in die Natur zu gehen. Einen Ort in der Natur zu besuchen, den sie noch nicht kannte. Eine Wanderung zu machen, die sie noch nie gemacht hatte. Eine Auszeit vom Trubel zu nehmen, nur für sich und mit der Natur. Und seit dem letzten Jahreswechsel war dieser Vorsatz verschollen. Aber heute war es so weit. Sie zog ihre dunkelblaue Outdoor-Leggins an, ihre Outdoorschuhe, packte eine Trinkflasche in einen kleinen Rucksack, Regenjacke über und los. Adresse des Wanderparkplatzes ins Navi eingegeben und schon fuhr sie Richtung Entspannung, Erholung, frischer Luft und Natur.
Nach ca. 50 Min. kam sie an ihrem ausgewählten Ort an, parkte ihren Pkw, stieg aus und stand auf einem asphaltierten Platz am Rande eines Waldstücks. Bis jetzt war kein anderes Auto hier zu sehen, was sie darauf schließen ließ, dass sie bisweilen das ganze Areal für sich alleine haben würde. Ein Lächeln umspielte ihren Mund und sie beglückwünschte sich innerlich zu ihrer Entscheidung.
Susi schnappte sich ihren Rucksack von der Rückbank ihres Pkws, schlug die Tür zu und verschloss ihr Auto. Sie marschierte auf dem nass glänzenden Platz Richtung Waldweg und stoppte, da sich vor ihr ein Regenwurm schlängelte. „Na, wer bist denn du?“, sprach sie mehr zu sich selbst als zu dem Würmchen. Susi sah fasziniert zu wie sich der Regenwurm gar nicht so langsam fortbewegte und sich Richtung Waldboden schlängelte.
„Ahhhhh, wasn das für ein Wesen?“, dachte sich Wilfried Wurm, während er auf recht hartem Untergrund zum nächstgelegenen Waldboden kroch. „Hoffentlich isst sie mir nicht die leckere humusreiche Erde weg!“, überlegte Wilfried. Durch die Borsten an seiner Bauchseite kroch er über den unnachgiebigen Boden weiter Richtung wohlriechender Erde und konnte die leckeren Pflanzenstoffe in Kombination mit Humus bereits schmecken.
Susi war sich noch nicht sicher, ob sie den Regenwurm süß oder eklig finden sollte. Irgendwie ein bisschen von beidem vielleicht. Soweit sie sich an ihre Schulzeit erinnerte waren Regenwürmer der Ringelwürmer Familie zugeordnet und hier der Gruppe der Wenigborster zugeteilt. Regenwürmer sind Zwitter, was Susi schon immer etwas befremdlich fand, aber irgendwie auch verrückt cool und sie atmen über die Haut, haben also keine Lunge. Laut aktuellen Forschungen, las Susi auf ihrem Smartphone, geht man davon aus, dass Regenwürmer bei Regen an die Oberfläche kommen, um ihren Sauerstoffgehalt aufzufüllen. Da sie immer feucht sein müssen, um nicht zu vertrocknen bzw. gar zu ersticken, bietet ein nasser Tag also ideale Voraussetzungen, um als Regenwurm das Erdreich zu verlassen und mal an die Oberfläche zu schlüpfen. „Irre!“, dachte Susi und blickte wieder auf das kleine Kerlchen, dass sich nun kurz vor dem Waldboden befand.
„Ich bin schneller als dieser lahme Riese! Ha!“, freute sich Wilfried und kroch mit vollem Eifer auf den nahenden Waldboden zu. Er hörte hinter sich Erschütterungen, drehte sich voller Panik auf den Rücken und schaute in ein riesen-großes Gesicht. Plötzlich kam in einer Halbkreis-Bewegung eine hautfarbene Extremität angeschossen, die ein Eichenblatt in der Hand hielt und es direkt neben ihn legte. Wilfried war verwundert und voller Panik zu gleich. „Was soll das denn? Eichenblätter sind voller Gerbstoffe! Pfui! Wer will denn sowas essen?“ Er wartete gespannt auf eine weitere Regung des ihm fremden Wesens und nachdem nichts passierte, drehte sich Wilfried wieder auf den Bauch und kroch weiter Richtung Waldboden. Er spürte wie die Härte des Asphalts in einen wesentlich weicheren Untergrund überging, atmete tief ein und aus und genoss die feuchte, erdige Luft des Waldbodens.
Susi schaute dem Regenwurm verwundert nach. Sie hatte doch gerade nachgelesen, dass Würmer gerne abgestorbene Blätter aßen. Warum ist er denn dann einfach weiter gerobbt? Sie zückte nochmal ihr Handy und las weiter: „Regenwürmer bevorzugen hierbei allerdings Kirschbaumblätter. Aufgrund der Gerbstoffe in Eichenblättern werden diese von Regenwürmern nicht beachtet.“ „Ah, naja“, sprach Susi laut aus und drehte sich schnell um die eigene Achse, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst hier war, der sie vielleicht für merkwürdig halten könnte, da sie laut im Wald und mit sich bzw. mit einem Regenwurm sprach.
Wilfried Wurm schlängelte sich weiter auf dem Waldboden und begann sich durch die oberste Erdschicht zu fressen. Ganz langsam verschwand der vordere Teil seiner Extremität im Erdreich und er scherte sich nicht mehr um dieses merkwürdige Geschöpf, das sich anscheinend nun von ihm wegbewegte, da die Erschütterungen auf dem Boden weniger wurden und bald ganz verschwanden. „Die Natur bringt schon Merkwürdiges hervor“, dachte Wilfried und fraß sich weiter ins Erdreich.




